Fachinformation Erdbebeningenieurwesen

Einführung

Die Kernaufgabe des Erdbebeningenieurwesens ist die erdbebensichere Auslegung von Bauwerken für den Lastfall Erdbeben. Es wird überprüft, ob die vorhandene Bauwerkskapazität ausreichend ist, um die am Bauwerksstandort vorhandene Erdbebeneinwirkung aufzunehmen.

Die Standsicherheit von Bauwerken kann durch geotechnische Effekte im Untergrund und durch die in den Bauwerken hervorgerufenen dynamischen Trägheitskräfte gefährdet werden. Nachfolgende Schadensbilder infolge der Erdbebenserie in der Emilia Romagna, Norditalien aus dem Jahre 2012 illustrieren mögliche Schadenswirkungen von Erdbeben.

Untergrundeffekte

Die Bodenbewegungen infolge von Erdbeben können durch einen Verlust der Scherfestigkeit des Bodens zu Bodenverflüssigungseffekten führen. Weiterhin kann es an der Erdoberfläche zu Verwerfungen kommen. Beide Effekte gefährden die Standsicherheit von Bauwerken.

Verwerfung
Verwerfung
Verflüssigung
Verflüssigung

Bauwerkschäden

Bei nicht erdbebensicher ausgelegten Bauwerken können gravierende Schäden bis hin zum Teil- oder Gesamtkollaps der Bauwerke auftreten.

Gebäudeschaden
Gebäudeschaden
Schaden im Anlagebau
Schaden im Anlagebau

Erdbebenkunde

Die Einwirkung von Erdbeben wird durch Erdbebengefährdungskarten beschrieben, mit denen standortspezifisch die Erdbebengefährung ermittelt werden kann. Grundlage der Erdbebengefährdungskarten sind in der Regel probabilistische Gefährdungsanalysen unter Verwendung von historischen Erdbebenkatalogen und geophysikalischen Modellen. Die Gefährdungskarten können für verschiedene Wiederkehrperioden erstellt werden. Nachfolgende Karte zeigt beispielhaft eine intensitätsbasierte Gefährdungskarte für Deutschland mit einer Wiederkehrperiode von 2500 Jahren, die von Leydecker erstellt wurde.

In den weiteren Unterabschnitten werden der Erdaufbau, die Plattentektonik mit der seismischen Wellenausbreitung und die wesentlichen seismischen und physikalischen Kenngrößen erläutert.

Erdbebengefährdungskarte nach Leydecker
Erdbebengefährdungskarte nach Leydecker

Erdaufbau

Der Erdkörper mit einem Durchmesser von etwa 12.740 km besteht aus verschiedenen Schichten mit stark unterschiedlichen Materialeigenschaften. Die Schichten können entsprechend der Abbildung unterteilt werden in Erdkruste, Erdmantel und Erdkern. Innerhalb dieser Schichten kann eine weitere Unterteilung erfolgen:

  • Bei der Kruste unterscheidet man zwischen oberer (kontinentaler) und unterer (ozeanischer) Kruste
  • Beim Mantel unterscheidet man zwischen oberen, mittleren und unteren Mantel
  • Der Kern besteht aus äußerem und innerem Kern

Wesentlich für die Entstehung von Erdbeben sind Verschiebungsvorgänge einzelner Erdplatten im oberen Erdmantel (die Lithosphärenplatten), die auf Grund von Wärmeausdehungsvorgängen im tieferligenden Erdmantel zustande kommen. Die einzelnen Platten bewegen sich auf Grund von unterschiedlicher Dichten der Kruste und des Erdmantels mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Richtungen fort.

Ein wichtiger Aspekt für die physikalische Beschreibung der seimologischen Vorgänge sind die Wellengeschwindigkeiten in den Schichten des Erdkörpers, die in der nachfolgenden Tabelle zusammengestellt sind.

Kruste Obere Kruste Tiefe 10-30 km, Wellengeschwindigkeit: bis 6.3 km/s
Untere Kruste Tiefe 6-10 km, Wellengeschwindigkeit: 6.4 -7-4 km/s
Mantel Oberrer Mantel Tiefe <400 km, Wellengeschwindigkeit: 8.0 -8.3 km/s
Mittlerer Mantel Tiefe 400 -900 km, Wellengeschwindigkeit: < 11km/s
Unterer Mantel Tiefe < 2900 km, Wellengeschwindigkeit: <13.6 km/s
Kern Äußerer Kern Tiefe < 5100 km, Wellengeschwindigkeit: 8.1-9.4 km/s
Innerer Kern Tiefe < 6370 km, Wellengeschwindigkeit: 11.3 km/s
Tabelle: Erdaufbau
Schema Erdaufbau
Schema Erdaufbau

Plattentektonik

Der Erdmantel besteht aus sieben großen Platten und aus einer großen Anzahl weiterer kleiner Platten. Die Platten unter den Ozeanen nennt man ozeanische Platten, die unter den Kontinenten nennt man kontinentale Platten.

Durch die zunehmende Wärme zum Erdkern kommt es in den tieferen Schichten zu wärmebdingten Plattenbewegungen. Die "schwimmenden Platten" bewegen sich voneinander weg, aufeinander zu oder aneinander vorbei. Die Bewegungen laufen in der Regel sehr langsam ab.

Kollidieren zwei Platten miteinander, kann es zu Verwerfungen kommen, die an der Erdoberfläche durch Risse sichtbar werden. Bei dynamischen Bewegungen der Platten an diesen Verwerfungen kommt es zum Erdbeben. Bei den Verwerfungen werden folgende Typen unterschieden:

  • Abschiebung
  • Horizontalverschiebung
  • Auf- oder Überschiebung

In der Realität treten meistens Mischformen der aufgeführten Verwerfungen auf.

Abschiebungen sind Risse bei denen eine Platte nach unten oder oben rutscht und sich von der anderen Platte wegbewegt.

Bei Horizontalverschiebungen schieben sich zwei Platten horizontal aneinander vorbei.

Auf- oder Überschiebungen sind Verwerfungen, bei denen sich eine Platte auf die andere schiebt.

Seismische Wellen

Erdbebenentstehung

Erdbeben entstehen durch plötzliche geologische Bruchvorgänge in der Erdkruste, die sich als System von starren Platten auf dem weicheren Erdinneren bewegt. Das gesamte System befindet sich in dauernder Bewegung, wodurch es zu Spannungsänderungen in der Erdkruste kommt. Wenn die entstandenen Spannungen die Bruchfestigkeit des Gesteins überschreiten kommt es zu plötzlichen Brüchen mit ruckartigen Bewegungen und damit zu tektonischen Beben. Die durch die Bruchfläche (Herdfläche) in Gang gesetzte Wirkungskette zeigt nachfolgende Abbildung.

Die im Zentrum der Herdfläche (Hypozentrum) erzeugten Erschütterungen breiten sich als seismische Wellen bis zur Erdoberfläche aus, wobei die an einem Standort ankommenden Wellen hinsichtlich ihrer Amplitude und ihres Frequenzgehalts entscheidend von der Zusammensetzung des Ausbreitungs-mediums beeinflusst werden.

Die Projektion des Hypozentrums an die Erdoberfläche wird als Epizentrum des Bebens bezeichnet und die Entfernung zwischen einem Standort und dem Epizentrum als Epizentralentfernung. Häufig wird auch der Begriff der Hypozentralentfernung verwendet, der die Entfernung zwischen dem betrachteten Standort und dem Hypozentrum angibt. Als durchgezogene Linien sind in der Abbildung die Isoseisten dargestellt, auf denen die gleiche Stärke von Erschütterungen verspürt wird.

Erdbebenentstehung und Ausbreitung
Erdbebenentstehung und Ausbreitung

Seismische Wellen

Seismische Wellen können in Raum- und Oberflächenwellen unterteilt werden, wobei bei ersteren Kompressions- und Scherwellen unterschieden werden. Die Kompressions- oder Primärwellen (P-Wellen) verursachen eine Teilchenbewegung parallel zur Ausbreitungsrichtung der Welle und besitzen eine höhere Ausbreitungsgeschwindigkeit als die Scher- oder Sekundärwellen (S-Wellen), die eine Teilchenbewegung quer zur Ausbreitungsrichtung hervorrufen.

Während Raumwellen sich in einem Voll- oder Halbraum ausbreiten können, ist die Entstehung von Oberflächenwellen, wovon die Rayleigh- und die Love-Wellen (R-, bzw. L-Wellen) die wichtigsten Vertreter sind, an das Vorhandensein einer Grenzfläche (etwa der Erdoberfläche) gebunden. Die Amplituden der Oberflächenwellen nehmen dabei näherungsweise exponentiell mit der Tiefe ab.

Die Abbildung zeigt die verschiedenen Wellenarten, von denen vorrangig die vertikal propagierenden Scherwellen Bauwerksschäden verursachen.

Wellentypen
Wellentypen

Seismische Größen

Seismologische Kennzeichnung von Beben

Zur Kennzeichnung der Stärke und Schadenswirkung von Erdbeben werden Skalen verwendet, die auf instrumentellen oder nichtinstrumentellen Größen beruhen. Instrumentelle Kennzahlen sind z. B. Magnituden oder seismische Momente, nichtinstrumentelle werden üblicherweise als Intensitäten bezeichnet.

Magnitudenskala

Magnituden sind dimensionslose logarithmische Maße für die Bebenstärke. Für praktische Zwecke ist vor allem die Lokalmagnitude ML von Bedeutung, da sie die Verhältnisse für Beben mit Herdentfernungen bis etwa 1000 km, die für deutsche Verhältnisse allein maßgebend sind, gut beschreibt. Es existieren empirische Beziehungen zwischen der seismischen Energie des Bebens und seiner Lokalmagnitude, wie folgende, auf Kanamori zurückgehende Beziehung, die für den Magnitudenbereich von 1,5 bis 6,0 gilt:

log E = 1,96 ML + 2,05 [Joule = 107 erg]

Aus der Formel wird deutlich, dass bei einer Zunahme der Lokalmagnitude um Eins die Energie des Bebens um den Faktor 91 anwächst. Beben mit Lokalmagnituden kleiner als etwa 2,5 sind kaum spürbar und werden als Mikrobeben bezeichnet. Die stärksten Lokalmagnituden liegen bei etwa 6,5 bis 7; für stärkere Beben sind andere Maße wie die Raumwellenmagnitude, die Oberflächen¬magnitude oder das seismische Moment sinnvoll. Da Magnituden nur die am Herd freigesetzte Energie beschreiben, sagen sie nichts über die Auswirkungen des Bebens an einem bestimmten Standort aus, der näher oder weiter vom Epizentrum entfernt sein kann.

Intensitätsskala

Im Gegensatz zur Magnitude ist die Intensität ein Maß für die örtlich verspürte Stärke eines Bebens, charakterisiert durch die Auswirkungen auf Menschen, Bauwerke und Landschaft und damit keine instrumentell ermittelte Größe. Die üblicherweise verwendeten zwölfteiligen Skalen wurden im Lauf der Zeit immer weiter entwickelt.

Heute wird in Europa meistens die von Grünthal entwickelte Europäische Makroseismische Skala (EMS-Skala) eingesetzt. Sie basiert auf der Medwedew-Sponheuer-Karnik Skala (MSK-Skala) und berücksichtigt darüber hinaus weitergehende materialspezifische und konstruktive Aspekte von Bauwerken. Nachfolgende Tabelle gibt in stark verkürzter Form die Einstufungskriterien wieder. Die an einem Standort auftretende Intensität ist allgemein neben der Erdbebenmagnitude von folgenden Parametern abhängig:

  • Herdtiefe
  • Hypozentraldistanz
  • Bebendauer am Standort
  • Geologische Untergrundverhältnisse
  • Lokale Baugrundverhältnisse
  • Frequenzgehalt des Bebens am Standort
Seismische Größen
Intensität Definition Beschreibung der maximalen Wirkungen
I nicht fühlbar Nicht fühlbar.
II kaum bemerkbar Nur sehr vereinzelt von ruhenden Personen wahrgenommen.
III schwach Von wenigen Personen in Gebäuden wahrgenommen. Ruhende Personen fühlen ein leichtes Schwingen oder Erschüttern.
IV deutlich Im Freien vereinzelt, in Gebäuden von vielen Personen wahrgenommen. Einige Schlafende erwachen. Geschirr und Fenster klirren. Türen klappern.
V stark Im Freien von wenigen, in Gebäuden von den meisten Personen wahrgenommen. Viele Schlafende erwachen. Wenige werden verängstigt. Gebäude werden insgesamt erschüttert. Hängende Gegenstände pendeln stark, kleine Gegenstände werden verschoben. Türen und Fenster schlagen auf und zu.
VI leichte Gebäudeschäden Viele Personen erschrecken und flüchten ins Freie. Einige Gegenstände fallen um. An vielen Häusern, vornehmlich in schlechtem Zustand, entstehen leichte Schäden wie feine Mauerrisse und das Abfallen von z. B. Verputzteilen.
VII Gebäudeschäden Die meisten Personen erschrecken und flüchten ins Freie. Möbel werden verschoben. Gegenstände fallen in großen Mengen aus Regalen. An vielen Häusern solider Bauart treten mäßige Schäden auf (kleine Mauerrisse, Abfall von Putz, Herabfallen von Schornsteinteilen). Vornehmlich Gebäude in schlechterem Zustand zeigen größere Mauerrisse und Einsturz von Zwischenwänden.
VIII schwere Gebäudeschäden Viele Personen verlieren das Gleichgewicht. An vielen Gebäuden einfacher Bausubstanz treten schwere Schäden auf; d. h. Giebelteile und Dachgesimse stürzen ein. Einige Gebäude sehr einfacher Bauart stürzen ein.
IX zerstörend Allgemeine Panik unter den Betroffenen. Sogar gut gebaute gewöhnliche Bauten zeigen sehr schwere Schäden und teilweisen Einsturz tragender Bauteile. Viele schwächere Bauten stürzen ein.
X sehr zerstörend Viele gut gebaute Häuser werden zerstört oder erleiden schwere Beschädigungen.
XI verwüstend Die meisten Bauwerke, selbst einige mit gutem erdbebengerechtem Konstruktionsentwurf und -ausführung, werden zerstört.
XII vollständig verwüstend Nahezu alle Konstruktionen werden zerstört.

Physikalische Größen

Bautechnische Kennzeichnung von Beben

Die seismische Auslegung von Bauwerken erfordert eine quantitative Beschreibung der seismisch induzierten Bodenbewegungen. Neben einer Reihe weiterer Kenngrößen im Zeit- wie im Frequenzbereich haben sich im Erdbebeningenieurwesen vor allem Antwortspektren als wichtigste Kennfunktion etabliert.

Physikalische Kenngrößen

Die maßgebenden physikalischen Kenngrößen zur Charakterisierung der Bodenbewegung sind:

  • Bodenverschiebungen
  • Bodengeschwindigkeiten
  • Bodenbeschleunigungen
  • Frequenzgehalt der Bodenbewegung
  • Bebendauer

Als Zeitverläufe der Bodenbewegung werden in der Regel Beschleunigungen gemessen. Daraus können durch Integration Verläufe der Bodengeschwindigkeiten und -verschiebungen berechnet werden. Der Frequenzgehalt der Bodenbewegung an einem Standort wird stark durch den geologischen Untergrund bestimmt. Auf felsigem Untergrund sind kurze Beben mit größeren Bodenbeschleu­nigungen zu erwarten, die jedoch mit hohen Frequenzen einhergehen, und dadurch ein relativ geringes Schadenspotential aufweisen. Mächtige Sediment­schichten bewirken dagegen eine Verschiebung des Energiegehalts des Wellenfeldes hin zu niedrigeren Frequenzen, dazu längere Bebendauern und niedrigere maximale Boden­beschleunigungen.

Antwortspektren

Antwortspektren sind die wichtigste Funktion zur Beschreibung der Lasteinwirkung bei der seismischen Bemessung von Bauwerken. Sie geben die Reaktion von Einmassenschwingern als einfachste Bauwerksmodelle auf Fußpunkterregungen mit den jeweiligen Beschleunigungszeitverläufen an.

Antwortspektren werden berechnet in dem ein Einmassenschwinger (Steifigkeit k, Dämpfung c und Masse m) mit dem Zeitverlauf einer Fußpunktbeschleunigung, wie nebenstehend dargestellt, beaufschlagt wird. Als Reaktion können die Maximalwerte der Relativverschiebung u, der Geschwindigkeit und der Beschleunigung des Massepunktes rechnerisch ermittelt werden.

Werden nun die Maximalwerte für Einmasseschwinger mit verschiedenen Perioden berechnet und als Funktion der Eigenperioden T aufgetragen, so ergeben sich die entsprechenden berechnet und als Funktion der Eigenperioden T aufgetragen, so ergeben sich die entsprechenden Verläufe für Verschiebungs-, Geschwindigkeits- oder Beschleunigungsantwortspektren. Die Ordinaten dieser Verläufe werden als Spektralordinaten bezeichnet.

Es empfiehlt sich, statt drei verschiedener Kurven eine einzige in einem doppelt logarithmischen Diagramm mit den Perioden auf der Absizze und den spektralen Geschwindigkeiten Sv auf der Ordinate zu zeichnen, womit die spektrake Beschleunigung Sa und die spektrale Verschiebung Sd entlang um 45° gedrehten Koordinatenachsen abgelesen werden können. Exemplarisch zeigt die nachfolgende Abbildung die Kurve für das Roermond Erdbeben aus dem Jahr 1992.

Ein besonderer Vorteil dieser Darstellungsweise liegt darin, dass im linken Teil des Bildes (für sehr kleine Eigenperioden, damit sehr steife Systeme) die (konstante) maximale Bodenbeschleunigung abgelesen werden kann, während sich im rechten Teil (für sehr große Eigenperioden, damit sehr weiche Systeme) die entsprechende maximale Relativverschiebung einstellt. Damit ist eine schnelle Überprüfung der Plausibilität des Antwortspektrums möglich.

Einmassenschwinger mit Fußpunktanregung
Einmassenschwinger mit Fußpunktanregung
Doppelt-logarithmische Darstellung des Antwortspektrums
Doppelt-logarithmische Darstellung des Antwortspektrums

Aktuelle Erdbeben

Die Erdbebentätigkeit wird weltweit ständig messtechnisch überwacht. Mehrere internationale Erdbebendienste stellen die von ihnen aufgezeichneten Daten online zur Verfügung.

Die aktuellen Erdbeben werden auf den folgenden Websites zur Verfügung gestellt:

USGS: http://earthquake.usgs.gov/earthquakes/world/seismicity_maps
USGS: http://earthquake.usgs.gov/earthquakes/world/seismicity_maps